Fernweh

El Hierro

El Hierro

Ich sitze am Steg.
Sitze einfach nur da…Beine ins Wasser, Quesadilla in der Hand und schaue mich um.
„Da ist halt echt ein bischen Anis drin“ denke ich mir, wie schon zigmal zuvor in den letzten Wochen und betrachte dabei kleine Wolkenfetzen. Sie düsen an der Steilküste entlang auf uns zu, nur um dann kurz vor dem Hafen weiter nach oben abzudrehen in Richtung Valverde. Da war ich gerade eben, bin noch einmal allein durch die, jetzt schon vertrauten Gassen, hab ein paar Dinge erledigt und mich verabschiedet. Irgendwie.
Denn Morgen soll es wieder weitergehen, der beinahe-Orkan, der die Insel in seiner Gewalt hatte, ist nach drei langen Tagen endlich weitergezogen und die Sausewolken sind wohl sein allerletzter Gruß zurück. Als nächstes widmet er sich Madeira und den Azoren und prüft deren Schwerwettertauglichkeit. Bis morgen soll sich hier auch die See wieder beruhigt haben und so machen wir uns auf den Weg nach Teneriffa, es gibt schließlich zu tun!
Die Windsteueranlage muss betriebsbereit sein, das Rigg größtenteils getauscht werden und…und…und…
„…sind halt auch einfach nicht zu süß! Und die Konsistenz!“ drängt sich mir beim nächsten Bissen auf. Meine Füße sehe ich hier genauso klar, wie den Meeresgrund. Klares, hellblaues Hafenwasser leuchtet um mich herum und mir fällt auf, dass ich an einer Hand abzählen kann, in wie vielen Häfen ich freiwillig meine Füße ins Wasser stecke.
Gerade als ich beobachte, wie die eintretenden Wellen die wenigen Boote im Hafen rollen lassen und mir überlege, ob man das wohl in Deutschland nachbacken kann…bemerkt Sonja meinen Blick, unterbricht ihre Lackierarbeit und ruft über die Box: „hey Käp´n, was machst du denn da drüben?“
Da merke ich erst, dass es darauf keine einfache Antwort gibt:

Einsamkeit.
Einsamkeit ist das erste, was sich einschleicht, wenn man länger auf el Hierro bleibt. Keine akute, keine die plötzlich kommt aber auch keine, die schnell wieder verschwindet. Sie schleicht sich ein, über Tage und ohne Unwohlsein. Weniger Gespräche, weniger Interaktionen…auch weniger Fragen und weniger Konflikte. Weniger Menschen.
Es wirkt wie eine soziale Entziehung, doch sie macht keine Angst, denn zugleich wird man zu einem kleinen Teil der Insel. Man kennt sich bald. Den Busfahrer, den Hafenpolizisten und die Quesadilla-Bäckerin. Und dann wird man erkannt…ist gemeinsam einsam.

Hierher kommen keine Menschen, die Unterhaltung suchen oder Strände oder “Kitesurfparaglidecanyoning“-Trips…hierher kommen Menschen, die Ruhe suchen, Ursprünglichkeit, Ehrlichkeit oder Wahrheit. Vielleicht sogar sich selbst.
Ohne lange Strände und große Hotels mit noch größeren Brunchbuffets wird es schwer für effizienten Tourismus. Wo Goldküste, Vergnügungsmeile und Shoppingcenter fehlen, fehlt auch meist der Kreuzfahrtanleger.
Hier wurde nichts angepasst, nichts vermeintlich verschönert.
El Hierro, die Ungeschminkte.

Diese Natürlichkeit vereinnahmt völlig…und entlohnt.
Hier gibt es keinen höchsten Berg, längsten Sandstrand und keine noch bunteren Obstgärten. Hier sucht man lange nach Superlativen, denn man findet die, nach denen man nicht sucht. Sie ist die kleinste, ruhigste und unbeliebteste – zumindest bei den Touristen, und obwohl sie nicht viel weiter von Ihren Schwesterinseln entfernt liegt, ist Sie die Einsamste. Die Andere.


Viele Canarios sprechen voller Bewunderung über die Herreños, die vielleicht zähesten Bewohner des Archipels. Von der Abgeschiedenheit und den Elementen geprägt, verlieren viele ihre Kinder an die größeren und attraktiveren Inseln wie Teneriffa und Gran Canaria mit ihren Universitäten und besten Verbindung zum europäischen Festland. Wer bleibt, härtet ab…aber wer bleibt, bleibt auch er selbst. Höher, schneller oder weiter, hat auf Hierro keine Bedeutung. Leistung und Konsum sind nutzlos, wenn der Atlantik an die Haustür klopft. Fluch und Segen zugleich, fordert er Tribut aber bietet auch Schutz…vor dem Rest der Welt.


Widerstand und Unabhängigkeit bestimmen den Alltag und formen das Bild der Insel und der Menschen. Seit fast dreißig Jahren, versucht die spanische Regierung eine zivile Raketenbasis und eine Radarfrühwarnanlage auf der Insel zu installieren, doch wer vom Atlantik lernt, der lernt fürs Leben und so scheitert Madrid regelmäßig mit großer Mehrheit am Inselrat. Im Einklang dazu wird die vollständige Versorgung mit regenerativen Energien seit einigen Jahren weiter vorangetrieben und als im August 2015 das erste Mal für vier Stunden die gesamte Insel mit Windenergie betrieben wurde, kam das einem Feiertag gleich. (Derzeitiger Rekord: 18 Tage in Folge)

Widerstand und Unabhängigkeit stehen oft für Verbitterung und Ablehnung, auf el Hierro stehen sie für Selbstbewusstsein und Verantwortung. Die Menschen biedern sich nicht an, sind aber unglaublich aufgeschlossen und respektvoll, wenn sie Interesse erahnen und unser Interesse ist groß.
Wir wandern durch die nördlichen Hochebenen, bestaunen die schroffe Küste vom Golfo-Tal und baden im Charco Azul…wir stehen auf dem Gipfel des Malpaso und sehen Palma, Gomera und den ewigen Teide…wir segeln entlang der steilen Ostküste, vorbei am Roque Bonanza und bestellen in Valverde Mojo Queso mit Rotwein von der Insel. Wenige Tage vor unserer Abreise fahren wir zum westlichsten Punkt der Insel und dem bislang westlichsten Punkt unserer Reise, dem ehemaligen Nullmeridian.

Das Ende der alten Welt.

Erst als ich dort stehe und mir dieser Titel immer wieder durch den Kopf geht, erkenne ich die Bedeutung dieser Worte. Für mich.
El Hierro war das Ende der alten Welt und ist es immer noch, denn wie das Leben hier ist, so war es – aber ist es nicht mehr.


Was man hier sieht, riecht und fühlt ist echt und dieses Gefühl färbt irgendwann auch auf uns ab. Wenn ich uns von außen betrachte, wirken wir anders auf mich. Wenn wir wandern, reden oder lachen, dann wirkt das auf mich unmittelbarer und direkter. Ohne Filter.


Und so kann ich nur antworten, was mir wirklich durch den Kopf geht. Die Wahrheit.

„…ich will hier nicht weg.“